Auf der Zielgeraden (Teil 2, emotional)

Wenn ich Ende der nächsten Woche Santiago erreiche, bin ich etwa 95 Tage zu Fuss auf dem Camino gewesen, 95 Tage vom Rheinland nach Galicien in Nord-Westspanien.
Ich hatte zu Anfang meines Blogs im Juni/Juli über meine Pilgerfreundin Martina berichtet, sie ist im Sommer den Camino Portugies gegangen, rund 280km von Porto nach Santiago.
Sie berichtete mir von einer Euphorie, die sie schon vor Santiago befiel und die noch Tage nach ihrer Rückkehr anhielt. Änliches beginne ich schon jetzt zu spüren, gut eine Woche vor dem Ziel, es ist eine merkwürdige Vorfreude.
Diese Vorfreude paart sich aber auch mit Wehmut, denn ich werde wohl niemals mehr so wunderbare Begegnungen mit Menschen aus aller Welt haben, wie ich sie hier in den letzten Wochen hatte.
Andererseits kann ich sagen, diese Wochen haben mir gut getan, die ersten sechs Wochen vor Le Puy in denen ich sehr alleine war und meinen Gedanken nach gehen konnte. Diese abwechslungsreichen Wochen zwischen Le Puy und Saint Jean Pied de Port, bezogen auf Landschaft und auf meine Bekanntschaften, aber ganz besonders über diese wunderbaren Wochen in Spanien mit den Menschen aus aller Welt die ich hier treffen und kennenlernen konnte
Ich konnte mir Gedanken machen über meine Vergangenheit, die Gegenwart auf dem Jakobsweg wie auch über meine Zukunft, wenn diese auch begrenzt ist, denn den größten Teil meines Lebens habe ich sicher schon gelebt.

Nachtrag vom Juni 2020

Zum gelebten Leben ist mir kürzlich folgendes Gedicht aufgefallen

Über das Leben, meine Seele hat es eilig

Dieses Gedicht wird oft ​dem brasilianer Mário de Andrade zugeschrieben. Jedoch soll sein wahrer Autor der brasilianische Schriftsteller Ricardo Gondim​ sein.

Meine Seele hat es eilig.

Ich habe meine Jahre gezählt und festgestellt, dass ich weniger Zeit habe, zu leben, als ich bisher gelebt habe.

Ich fühle mich wie dieses Kind, das eine Schachtel Bonbons gewonnen hat: die ersten isst es eilig und mit viel Vergnügen, aber erst als es merkt, dass nur noch wenige Bonbons übrig waren, begann es, diese wirklich zu genießen.

Ich habe keine Zeit für endlose Konferenzen, bei denen die Statuten, Regeln, Verfahren und internen Vorschriften besprochen werden, in dem Wissen, dass nichts erreicht wird.

Ich habe keine Zeit mehr, absurde Menschen zu ertragen, die ungeachtet ihres Alters nicht gewachsen sind.

Ich habe keine Zeit mehr, mit Mittelmäßigkeiten zu kämpfen.

Ich will nicht in Besprechungen sein, in denen aufgeblasene Egos aufmarschieren.

Ich vertrage keine Manipulierer und Opportunisten. 

Mich stören die Neider, die versuchen, Fähigere in Verruf zu bringen, um sich ihrer Positionen, Talente und Erfolge zu bemächtigen.

Meine Zeit ist zu kurz um Überschriften zu diskutieren.

Ich will das Wesentliche, denn meine Seele ist in Eile.

Ohne viele Süssigkeiten in der Packung.

Ich möchte mit Menschen leben, die sehr menschlich sind.

Menschen, die über ihre Fehler lachen können, die sich nichts auf ihre Erfolge einbilden.

Die sich nicht vorzeitig berufen fühlen und die nicht vor ihrer Verantwortung fliehen.

Die die menschliche Würde verteidigen und die nur an der Seite der Wahrheit und Rechtschaffenheit gehen möchten.

Es ist das, was das Leben lebenswert macht.

Ich möchte mich mit Menschen umgeben, die es verstehen, die Herzen anderer zu berühren.

Menschen, die durch die harten Schläge des Lebens lernten, durch sanfte Berührungen der Seele zu wachsen.

Ja, ich habe es eilig, ich habe es eilig, mit der Intensität zu leben, die nur die Reife geben kann.

Ich versuche, keine der Süßigkeiten, die mir noch bleiben, zu verschwenden.

Ich bin mir sicher, dass sie köstlicher sein werden, als die, die ich bereits gegessen habe.

Mein Ziel ist es, das Ende zufrieden zu erreichen, in Frieden mit mir, meinen Lieben und meinem Gewissen.

Wir haben zwei Leben und das zweite beginnt, wenn du erkennst, dass du nur eines hast.

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